Ich war schon immer introvertiert. Wenn man mich nach meiner Kindheit fragt, werde ich manchmal ein bisschen traurig. Ich bin sehr behütet aufgewachsen, doch gleichzeitig hatte ich auch viel zu kämpfen. Vor allem mit mir selbst und meinem Anderssein. Meine Eltern beschreiben mich als ruhiges, sensibles und ängstliches Kind und das deckt sich mit dem, woran ich mich erinnere.

Introvertiert im Kindergarten

Mit drei Jahren kam ich in den Kindergarten. Ich ging nicht sonderlich gerne dorthin, denn ich stellte schnell fest: dort gab es andere Kinder. Und man erwartete von mir, dass ich mit ihnen spielte. Das passte nun ganz und gar nicht in mein introvertiertes Weltbild. Bisher hatte ich die meiste Zeit allein gespielt, gemalt oder mit Knete herumgeschmiert. Das war jetzt auf einen Schlag vorbei.

Bauchweh statt Vorfreude

Obwohl der Kindergarten morgens um acht Uhr öffnete, kam ich häufig erst um zehn dort an, weil ich vorher mit Bauchschmerzen zu kämpfen hatte. Jeden Morgen dasselbe Drama. Meine arme Mutter verzweifelte fast daran. Was hat das Kind nur? Will sie sich vor dem Kindergarten drücken? Simuliert sie am Ende nur? Nein, ich habe nicht simuliert. Ich war einfach nur furchtbar nervös, weil ich wusste, dass der Tag wieder herausfordernd werden würde.

Der Kindergarten an sich war ja kein schlimmer Ort, denn ich mochte es, im Stuhlkreis zu sitzen und neue Lieder oder Gedichte zu lernen. Auch in die Mal- und Bastelecke zog ich mich immer wieder zurück. Allerdings sehnte ich mich nach meinen Spielsachen zu Hause und vor allem nach der Ruhe und Freiheit, die ich dort genoss. Die anderen Kinder strengten mich an mit ihrem Rumgezappel und Gejohle.

Zudem gab es ein Mädchen, das mich mobbte und immer und überall die Anführerin sein wollte. Ich hatte Angst vor ihr und meine Mutter forderte das Mädchen öfter auf, mich in Ruhe zu lassen – mit mäßigem Erfolg. Witzig, wenn man bedenkt, dass dieses Mädchen und ich im Teenageralter tatsächlich Freundinnen wurden. Aber daran war damals noch nicht zu denken.

Andere Kinder? Nein, danke!

Nachmittags spielte ich meistens wieder alleine oder mit meiner kleinen Schwester. Wenn die Nachbarskinder an unserer Tür klingelten und fragten, ob ich zum Spielen rauskäme, behauptete ich häufig, krank zu sein. Tatsächlich litt ich an Keinbockeritis.

Meiner Mutter machte das Sorgen. Sie arrangierte immer wieder Treffen mit anderen Kindern, zu denen ich nur widerwillig ging. Schließlich schleppte sie mich zum Kinderarzt, fragte, was man dagegen tun könne. Sein Rat: einfach in Ruhe lassen. Manche Kinder spielten eben gerne allein, das sei ganz normal. Meine Mutter war beruhigt und ließ mich von nun an so spielen, wie ich es wollte.

Zwei unsichtbare Freunde

Wobei ich sagen muss, dass ich nie ganz alleine war. Ich hatte zwei gute Kumpels, die Ass und Elias hießen. Leider konnte sie außer mir niemand sehen.

Meine Eltern vermuten, dass ich das Wort Ass aufgeschnappt hatte, als mein Vater mit meinen Opas Skat spielte, und deshalb meinen imaginären Freund danach benannte. Elias hingegen war der Name eines Jungen, den ich insgeheim toll fand.

Ass und Elias begleiteten mich eine ganze Weile. Meine Eltern spielten das Spiel mit und ließen mich davon erzählen, welche Abenteuer ich mit meinen beiden unsichtbaren Kameraden erlebte. Und eines Tages verschwanden Ass und Elias auf genauso geheimnisvolle Art und Weise, wie sie zu mir gekommen waren.

Introvertiert in der Grundschule

1996 wurde ich eingeschult und fand tatsächlich einen realen Freund: Florian, von allen nur Flo genannt. Flo trug eine Brille, hatte feuerrote Haare und war mir in allem überlegen (außer Sport, da waren wir beide Nieten). Das fand ich spannend, denn intelligente Kinder hatten eine anziehende Wirkung auf mich.

Flo war das einzige Kind – neben meiner Schwester – mit dem ich freiwillig nach der Schule spielte. Er bastelte mir manchmal Sachen. Zum Beispiel tüftelte er extra für mich an einer Flugmaschine. Leider wurde sie nie fertig. Vielleicht auch Gott sei Dank.

Als wir in die zweite Klasse kamen, hatte Flo schlechte Nachrichten: Er ziehe mit seiner Familie nach Nordrhein-Westfalen. Das war’s dann mit unserer Freundschaft. Und ich spielte wieder allein.

Interessant ist, dass ich damals schon gerne geschrieben habe. Mit Bleistift kritzelte ich in leere Schulhefte erste Geschichten und illustrierte sie. Manchmal zeichnete ich auch Comics, tackerte sie zu kleinen Heftchen zusammen und unterhielt damit meine kleine Schwester (sie war mein größter Fan).

Introvertiert in der Realschule

Als ich etwa in der fünften Klasse war, bekam ich den alten Computer meines Vaters geschenkt. Das gute Stück lief mit Windows 3.11 und hatte selbstverständlich keinen Internetanschluss. Dafür aber MS Word! Von diesem Tag an tippte ich täglich an meinen Geschichten. Das Schreiben wurde mein größtes Hobby.

Ich muss ungefähr zwölf gewesen sein, als meine Eltern sich endlich dazu entschlossen, einen Internetanschluss anzuschaffen. Das war für mich das Paradies auf Erden. Sie erlaubten mir, dreißig Minuten in der Woche ins Internet zu gehen. Mit einem Modem, das allein schon zehn Minuten benötigte, um eine Website zu laden. Ich gebe offen zu: Ich hab mich nie an die Abmachung gehalten. Und die Rechnung fiel jeden Monat deutlich höher aus, als erwartet.

Dass mein Vater das überhaupt nicht amüsant fand, muss ich wohl nicht erwähnen. Dass ich auf den ersten Blick ins Internet verliebt war, auch nicht. Und dass ich schon damals Versuche startete, eigene Websites auf die Beine zu stellen (Netscape Composer und MS FrontPage lassen grüßen), erklärt wohl, warum ich so eine Leidenschaft fürs Bloggen entwickelt habe.

Schlussgedanken

Rückblickend kann ich sagen, dass meine Eltern mir viel Freiraum gegeben haben, um mich zu entfalten. In Schule und Kindergarten hingegen stieß ich mit meiner stillen und sensiblen Art oft auf Unverständnis.

Dort herrschte das Gesetz des Stärkeren. Wer sich nicht durchsetzt, hat verloren. Und ich war meist das Kind, das nicht mit dem Kopf durch die Wand wollte. Mir war die Harmonie wichtiger. Eine Eigenschaft, die mir noch heute manchmal zum Verhängnis wird. Doch ich habe gelernt, sie anzunehmen und lieben zu lernen.

Kurzvita

Mim Gaisser wurde 1989 in der Nähe von Ulm geboren. Ihre erste Website bastelte sie mit etwa zwölf Jahren, es kam aber nie zu einer Veröffentlichung. 2015 gründete sie einen Buchblog und fing mit dem regelmäßigen Bloggen an. Seitdem schrieb sie für sämtliche Blogs und absolvierte sogar ein Fernstudium zur Bloggerin.

Seit April 2021 bloggt sie vornehmlich auf stillundsensibel.de über Introversion und das Bloggerhandwerk.

Sie lebt in Esslingen am Neckar.

3 Antworten zu „Introvertiert in der Kindheit – Ein Erfahrungsbericht”.

  1. […] meinem Erfahrungsbericht „Introvertiert in der Kindheit“ berichte ich, wie ich meine ersten zwölf Lebensjahre als stilles und sensibles Kind erlebt […]

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  2. […] Introvertiert in der Kindheit – Ein Erfahrungsbericht […]

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  3. […] habe, habe ich nicht geschrieben. Bei der lieben Maria Klitz durfte ich einen Gastartikel über meine Kindheit als stiller Mensch schreiben. Außerdem hat mir die wunderbare Julia Dest eine Nische in ihrem Blog freigeräumt, in […]

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