Die Adventszeit steht, genauso wie ein Tag im „Blogvent2020“, für Besuche der Verwandtschaft, für Zeit mit der Familie, den Liebsten.
Doch, wie geht es Menschen, die ihre Liebsten verloren haben?
Ja, der Tod gehört genauso zum Leben wie die Geburt auch.
Doch Menschen, durch eine Krankheit, einen Unfall oder das Alter zu verlieren ist das Leben, ist Realität.
Ein Amoklauf jedoch kannte ich bis zum April 2002 nur aus dem Fernsehen aus Amerika.
Daher möchte ich mit diesem Artikel an den Amoklauf von Erfurt erinnern und bewusst machen, dass das Leben schneller vorbei sein kann, als uns lieb.
Genießt jeden Moment, den ihr mit euren Liebsten habt und freut euch über Kleinigkeiten im Alltag.
Das Jugendstilhaus
Es war Freitag, der 19. April 2002.
Unsere musisch – künstlerisch orientierte Klasse 9 M machte einen Ausflug in unsere Landeshauptstadt Erfurt, um sich künstlerisch inspirieren zu lassen. Dazu besuchten wir das Jugendstilhaus, welches sich in der von kleinen und verwinkelten alten Straßen der Innenstadt in einem Hinterhof befand.
Wir schauten es uns an und waren total erstaunt.
Es waren so viele schöne Sachen auf drei Etagen verteilt, dass wir es gar nicht schafften, uns alles anzusehen.
Und so machten wir einen Termin für den nächsten Freitag, denn schließlich wollten wir alles über den Jugendstil erfahren.
In der Innenstadt von Erfurt
Wir liefen alle zurück zum Bahnhof, um mit dem Zug zurück nach Eisenach zu fahren.
An diesem Tag sind wir auch über die Krämerbrücke zurück zur Innenstadt gelaufen.
Uns sind so viele Menschen entgegengekommen:
Einige langsam laufend, andere schnell laufend, aber alle waren frohen Mutes.
Schließlich ging es auch ins Wochenende.
Und wenn man nicht wusste, dass Mitte April war, hätte man glatt denken können, dass es Sommer wäre.
Es war einfach nur schön warm.
Vielleicht waren die Menschen auch deshalb so gut gelaunt.
Doch dieses sollte sich genau eine Woche später -am 26. April- ändern!
Der 26. April 2002
An diesem Freitag wollten wir eigentlich noch einmal nach Erfurt um uns den „Rest“ anzusehen.
Doch leider durchkreuzte unsere Biologie – Lehrerin Frau G. unseren Ausflug.
Denn sie wollte an jenem Freitag unsere lang vorher angekündigte Bio – Klassenarbeit schreiben. Und so saßen wir alle ganz brav in unserem Bio – Raum 307 im Haus 1 und dachten über die tierische und pflanzliche Zelle sowie Mikroorganismen im Wasser nach.
Irgendwie konnte ich mich überhaupt nicht konzentrieren, was weder daran lag, dass ich es nicht wusste, noch dass ich keine Lust hatte. Denn Bio zählte zu meinen Lieblingsfächern und der Stoff war auch interessant.
Doch an diesem Tag war es in unserer Klasse so außergewöhnlich ruhig, dass mir die Stille schon Angst machte.
Es musste irgendwas passiert sein.
Die Durchsage
Und als ob jemand meine Gedanken gehört hatte, erklang in diesem Augenblick ein Knacken im Lautsprecher bei uns im Klassenraum.
Unser Direktor Herr S. wünschte uns einen guten Morgen.
Ich hatte in den vier Jahren, die ich meinen Direx schon kannte, noch nie eine solche Angst, Trauer und gleichzeitiges Unverständnis in seiner Stimme gehört, dass mir nur noch ein kalter Schauer über den Rücken lief.
Normalerweise hatte unser Direx eine sehr nette und beruhigende Stimme.
Doch diesmal war alles anders!
Es war noch schlimmer als am 11. September 2001.
Uns beunruhigte das sehr und wir hatten eine Vorahnung.
Die nachfolgenden Worte würden unser Handeln, aber vor allem unseren täglichen Gang zur Schule sehr beeinflussen.
Man merkte richtig das tiefe Luftholen von unserem Direktor, bevor er uns erzählte, dass es in Erfurt einen Amoklauf gab.
In unserem Erfurt.
In unserer Landeshauptstadt.
Das konnte nicht sein.
Unser Direktor musste sich geirrt haben.
Wir waren doch erst eine Woche vorher dort.
Da war noch alles „normal“.
Und jetzt das!?
Herr S. erzählte weiter, dass es im Gutenberg – Gymnasium passiert ist und das es Tote gab.
Mehr war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt.
Wir konnten es einfach nicht begreifen.
Die Schweigeminute
Nach ein paar Minuten kam erneut eine Durchsage unseres Direktors, der für heute den Unterricht ausfallen ließ.
Doch bevor wir alle gehen konnten, bat er uns, uns von den Plätzen zu erheben und eine Schweigeminute zu begehen.
Dieses taten wir dann auch.
Doch anstatt danach aus unserem Klassenzimmer sowie aus unserer Schule zu rennen bzw. zu gehen, ließen wir uns total erstarrt auf unsere Stühle sinken.
Wir konnten es einfach noch nicht begreifen.
Einen Amoklauf in unserer Heimat.
So was kannten wir nur aus Amerika.
Die Realität
Allmählich sollten wir es begreifen: das Fernsehprogramm fiel aus.
Stattdessen kamen nur Reportagen über den Amoklauf.
Selbst die Diskotheken in Eisenach und Umgebung hatten für dieses Wochenende geschlossen und beteiligten sich an der Trauer, die über unserem Bundesland Thüringen lag.
Der nächste Schultag
Als wir am Montag wieder in die Schule gegangen sind, war es so ein komisches Gefühl.
Irgendwie lag Angst in der Luft.
Auch an diesem Tag fiel für unsere Schule der Unterricht aus.
Und als wir unsere Klassenlehrerin Frau B. fragte, was wir Freitag machen wollten, waren wir uns sofort alle einig, dass wir nach Erfurt zum Trauergottesdienst im / am Dom fahren wollten.
Und so geschah es auch.
Eine Woche nach dem Amoklauf
Wir trafen uns am Freitag, den 3. Mai am Hauptbahnhof in Eisenach und fuhren gemeinsam nach Erfurt.
Es war ein sehr bedrückender Moment, als wir in Erfurt ausgestiegen sind.
Überall waren Menschen.
Menschen, die total traurig waren und
Menschen, die es noch immer nicht begreifen konnten.
An diesem Tag liefen wir außergewöhnlich langsam.
Wir dachten alle, wir würden träumen und wenn wir am Domplatz angekommen sind, laufen Menschen drüber.
Doch uns sollte die Wahrheit schneller in die Realität holen, als wir es wollten.
Der Trauergottesdienst
Wir sind am Domplatz angekommen.
Aber dieses Bild, dass sich uns zeigte, war sehr beängstigend und grausam.
Überall standen Menschen mit versteinertem Blick und gesenkten Kopf.
Auf den Domstufen standen siebzehn Kerzen.
Und am Dom hingen Bilder der Ermordeten und des Amokläufers.
Er war also wirklich passiert.
Wir hatten es nicht geträumt!
Wir sahen die Eltern, der beiden ermordeten Schüler.
Die Familien, der getöteten Lehrer und die Ehefrau und Tochter, die eine Woche vorher sechzehn Jahre geworden war, des erschossenen Polizisten.
Und plötzlich herrschte in der sonst so lebendigen Stadt eine angsteinflößende Ruhe.
-Der Gottesdienst begann.
Wir standen einfach nur da und lauschten den Worten.
Den Worten der Pfarrerin, der Lehrer aber auch der Schüler.
Es waren Worte der Trauer, der Verzweiflung, aber auch der Hoffnung.
Der Hoffnung, dass sich jetzt vielleicht etwas an den Schulgesetzen und vor allem an den Waffengesetzen ändert.
Die Rückfahrt nach Eisenach
Als der Gottesdienst nach zwei bis drei Stunden vorbei war sind wir wieder nach Eisenach zurückgefahren.
Spätere Gespräche unter uns Mitschülern haben auch ergeben, dass wir uns alle die Fahrt zurück schneller vorüber ging als sonst –
Wir waren wie in Trance.
In diesem Zustand sind mir die Worte Carl Poppers eingefallen:
„Die Zukunft existiert noch nicht,
und eben darin liegt unsere große Verantwortung:
dass wir die Zukunft beeinflussen,
dass wir alles tun können,
um sie zu einer Besseren zu machen.“
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