Heiligabend endet nicht mit dem letzten Teller auf dem Tisch oder dem Ausschalten der Lichterkette.
Denn für viele beginnt danach eine Phase, über die kaum einer spricht:
der Leerlauf.
Ein Zustand, der äußerlich ruhig wirkt, innerlich jedoch alles andere als leer ist.
Wenn Struktur wegbricht, Erwartungen verklungen sind und das Nervensystem nicht einfach „abschalten“ kann, entsteht ein Zwischenraum. Und genau von diesem Raum handelt der Artikel.
Von dem Danach.
Von dem, was bleibt, wenn nichts mehr ansteht.
Und warum das für viele Menschen herausfordernder ist als der Trubel selbst.
Wenn äußere Struktur plötzlich fehlt
Während Heiligabend von klaren Abläufen geprägt ist, fällt dieser Rahmen danach abrupt weg.
Zeiten, Aufgaben, soziale Rollen.
All das war zumindest für Heiligabend eindeutig.
Und für die beiden nachfolgenden Weihnachtsfeiertage bei vielen auch noch.
Nach dem Fest gibt es keine feste Dramaturgie mehr, was sich mit einem Mal sehr verunsichernd anfühlen kann.
Denn selbst, wenn die Struktur anstrengend war, wirkte sie regulierend.
So, dass durch ihren Wegfall, Orientierungslosigkeit entsteht.
Nicht, weil man unfähig wäre, sondern weil Übergänge Zeit brauchen, der Körper und das Nervensystem sich neu sortieren müssen.
Leerlauf bedeutet nicht Entspannung
Leerlauf wird häufig mit Erholung gleichgesetzt.
Doch in der Realität ist er jedoch oft ein Zustand erhöhter innerer Aktivität:
Eindrücke des Vortags wirken nach, Gespräche hallen nach, Gefühle tauchen zeitversetzt auf.
Das Gehirn beginnt zu verarbeiten, was vorher keinen Platz hatte.
Dass sich das unruhig, angespannt oder sogar leer anfühlt, ist kein Zeichen von Undankbarkeit oder Versagen, sondern ein normaler Regulationsprozess.
Entspannung ist kein Schalter, sondern ein Ergebnis.
Der Körper kommt zur Ruhe: der Kopf jedoch noch lange nicht
Körperliche Erschöpfung tritt häufig sofort ein.
Mentale Beruhigung hingegen folgt deutlich verzögert.
Diese Asynchronität sorgt für Frust:
man liegt, sitzt, versucht ruhig zu sein; merkt jedoch, dass es innerlich weiterläuft.
Gedanken springen, Emotionen drängen sich auf, Reizbarkeit steigt.
Viele interpretieren das als persönliches Scheitern an der „Erholung“.
Tatsächlich zeigt sich hier, wie sehr Körper und Nervensystem eigenständige Zeitpläne haben.
Stille als Verstärker statt als Erholung
Nach dem Wegfall äußerer Reize wird das Innere lauter.
Doch die Stille wirkt dann nicht beruhigend, sondern konfrontierend.
Sie macht sichtbar, was sonst überdeckt wird:
Überforderung, Traurigkeit, Leere oder innere Unruhe.
Das erklärt nämlich, warum manche Menschen nach intensiven Tagen gezielt Ablenkung suchen.
Nicht aus Unreife, sondern aus Selbstschutz.
Stille ist kein neutraler Zustand.
Sie ist ein Resonanzraum.
Der gesellschaftliche Anspruch: „Jetzt entspann dich doch!!!“
Nach besonderen Tagen wird Entspannung erwartet.
Doch diese Erwartung erzeugt Druck:
wer sich nicht sofort ruhig, dankbar oder ausgeglichen fühlt, glaubt schnell, etwas falsch zu machen.
Dabei ignoriert jedoch dieser Anspruch individuelle Unterschiede in Verarbeitung und Regulation.
Erholung folgt keinem Kalender.
Sie entsteht dort, wo Sicherheit, Verständnis und Zeit vorhanden sind.
Und nicht dort, wo sie eingefordert wird.
Nach Heiligabend ist vor dem Leerlauf
Der Leerlauf ist kein Zeichen von Leere, sondern ein Übergangszustand.
Ein notwendiger Raum zwischen Anspannung und echter Entlastung.
Wer ihn überspringen will, riskiert langfristige Erschöpfung.
Wer ihn jedoch anerkennt, gibt dem eigenen System die Chance, Erlebtes zu integrieren.
Denn Leerlauf ist keine Schwäche.
Er ist Arbeit!
Nur unsichtbar.
Übergänge brauchen Begleitung, nicht Bewertung
Anstatt diesen Zustand zu bewerten oder wegzudrücken, hilft es, ihn zu begleiten.
Kleine, sanfte Strukturen können Halt geben:
feste Essenszeiten, kurze Spaziergänge, vertraute Routinen.
Nicht, um produktiv zu sein, sondern um Sicherheit zu schaffen.
Übergänge gelingen nicht durch Disziplin, sondern durch Nachsicht.
Erholung ist ein Prozess, kein Ziel
Erholung lässt sich nicht erzwingen.
Sie entsteht, wenn das Nervensystem genügend Zeit hatte, von Aktivierung in Regulation zu wechseln.
Das kann Stunden, Tage oder länger dauern.
Wer das akzeptiert, nimmt Druck raus.
Wer es ignoriert, kämpft gegen den eigenen Körper.
Beides hat Folgen.
Nur eines ist nachhaltig.
Dem Leerlauf Raum geben
Vielleicht geht es nicht darum, den Leerlauf schnell hinter sich zu bringen.
Vielleicht geht es darum, ihn auszuhalten.
Ihn als Teil des Zyklus zu sehen.
Als Phase, die weder bewertet noch optimiert werden muss.
Denn manche Zustände wollen nicht gelöst, sondern gehalten werden.
Bis sie von selbst leiser werden.
Zwischen den Tagen
Nach Heiligabend liegt kein Versagen, sondern ein Übergang.
Kein Stillstand, sondern Bewegung unter der Oberfläche.
Wer lernt, diesen Raum zu respektieren, begegnet sich selbst mit mehr Ehrlichkeit.
Und vielleicht ist genau das die stillste, aber nachhaltigste Form von Fürsorge.





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