ADHS bei Frauen wird oft übersehen:
statt Hyperaktivität zeigen sich intensive, emotionale Reaktionen, chaotische Gedanken, Reizüberflutung und ein verzweifelter Versuch, trotzdem zu funktionieren.

So, dass ich in diesem Interview, welches Teil der Blogparade von Claudia Stellmacher – Köthe ist, in den nachfolgenden 7 Fragen nicht nur meine Erfahrungen als neurodivergente Frau teile, sondern auch, wie es sich anfühlt, in einer Welt zu leben, die ganz andere Regeln schreibt.

1. Was erleben Frauen mit ADHS im Alltag, das viele nicht sehen oder falsch deuten?

Viele denken bei ADHS an Zappeln, Unkonzentriertheit oder Chaos.

Was bei Frauen jedoch passiert, ist oft still.
Innerlich tobt ein Sturm, aber außen sieht man nur die Frau, die sich anstrengt, zu lächeln.
Ich habe mich zum Beispiel sehr oft gefragt, warum Dinge, die für andere leicht sind, zum Beispiel sich Termine merken, Wäsche waschen, zuhören mich so unfassbar viel Kraft kosten.

Was andere nämlich nicht sehen ist, dass ich 80 % meines Tages damit verbringe, mich selbst zu regulieren, Gedanken zu sortieren, Reize auszuhalten.
Sie sehen nur die Müdigkeit.
Jedoch nicht, wovon sie kommt.

2. Inwiefern kollidieren gesellschaftliche Erwartungen an „funktionierende Frauen“ mit dem, wie sich ADHS zeigt?

Frauen mit ADHS brechen Regeln.

Nicht weil sie wollen, sondern weil sie müssen, um zu überleben.
Denn die Erwartungen der Gesellschaft an Frauen sind:

  • sei organisiert,
  • sei ruhig,
  • sei freundlich,
  • sei kontrolliert.

Aber ich bin oft laut, schnell überfordert, impulsiv, emotional. Hab tausend Gedanken gleichzeitig und kann mich manchmal nicht erinnern, ob ich gegessen, respektive getrunken habe.

Wenn ich dann noch intensiv emotional reagiere, weil ich zum Beispiel etwas unfair fand oder überfordert bin, bekomme ich direkt Folgendes zu hören:
„Reiß dich doch mal zusammen!“.

So, dass ich jahrelang versucht habe, eine Version von mir zu sein, die weniger stört.
Heute weiß ich jedoch: Ich war nie zu viel! Ich war nur nie gemeint!

3. Was bedeutet Emotionspolicing?
Und warum betrifft es gerade Frauen mit ADHS so stark?

Emotionspolicing ist, wenn dir (bewusst oder unbewusst) gesagt wird, welche Gefühle du wie fühlen darfst.
Und dabei ist es völlig egal, ob dir dieses von anderen oder von dir selbst gesagt wird.

Denn schon früh in meiner Kindheit habe ich gelernt:

  • Wut ist „zu viel“,
  • Traurigkeit ist „schwach“,
  • Freude ist „übertrieben“.

Ich war immer „zu laut“, „zu sensibel“, „zu dramatisch“.

Was daher kommt, dass Frauen mit ADHS Gefühle intensiver erleben: sie sind schneller da, stärker, nicht filterbar.
Wenn du also ständig für dein Fühlen kritisiert wirst, beginnst du, dich selbst zu zensieren.
Du lernst, deine Wahrheit zu verstecken.

4. Wie kann man Smalltalk und soziale Kommunikation anders verstehen, wenn man neurodivergent ist?

Für viele neurotypische Menschen ist Smalltalk wie sozialer Kleber.
Für mich war er immer wie Kaugummi auf der Seele: klebrig, fad, schwer zu schlucken.

Ich will über echte Dinge reden:
„Was liebst du?“
„Wovor hast du Angst?“
„Wofür brennst du?“

Wenn ich jedoch Smalltalk führen soll, fühlt sich das an, als würde ich eine Rolle spielen: ich weiß, was ich sagen sollte, aber es fühlt sich nicht echt an.

Das heißt nicht, dass ich nicht sozial bin!
Im Gegenteil.
Ich bin zutiefst verbunden mit Menschen.
Nur eben anders!

5. Welche scheinbar „unangepassten“ Verhaltensweisen sind in Wahrheit Ausdruck von Empathie oder Überforderung?

Ich habe oft impulsiv reagiert, Dinge gesagt, die „zu direkt“ waren.
Radikale Ehrlichkeit!
Ich wollte helfen.
Ich wollte fair sein.

Wenn ich laut werde, weine, mich zurückziehe oder unterbreche, dann nicht, weil ich unhöflich oder dramatisch bin, sondern weil ich von meinen Gefühlen überrollt werde.

Denn ADHS heißt auch: Gefühle ohne Filter.

Doch die Gesellschaft sagt: „Sei angepasst!“

Ich sage: „Lernt, mit Vielfalt umzugehen!“

Nicht jedes Verhalten ist Unhöflichkeit.
Manchmal ist es Überforderung oder Mitgefühl.

6. Was hat dich persönlich lange glauben lassen, du seist „zu viel“?
Und wie hast du gelernt, dass du genau richtig bist?

Ich habe es von klein an gespiegelt bekommen:
„Sei ruhiger!“,
„Du redest zu viel!“,
„Warum kannst du nicht einfach normal sein?“

Ich dachte, mit mir stimmt etwas nicht, weil ich nicht ins System gepasst habe.
Aber Systeme sind nicht für Menschen wie mich gemacht.

Doch der Wendepunkt kam, als ich verstanden habe:
Ich bin nicht falsch!
Ich bin neurodivergent.

Mein Gehirn funktioniert anders, nicht schlechter. Und das darf nicht länger versteckt werden.
Ich bin nicht zu viel!
Ich bin vollständig!

7. Was wünschst du dir, wie Menschen in sozialen, beruflichen oder familiären Situationen mit Frauen mit ADHS umgehen?

Mit Neugier statt Urteil.
Mit Zuhören statt Vorschlägen.
Mit der Frage: „Was brauchst du gerade?“, statt: „Du musst dich ändern!“

Ich wünsche mir, dass wir aufhören, Menschen zu bewerten nach Leistung, Anpassung oder Lautstärke!
Und endlich anfangen, Vielfalt als Bereicherung zu sehen!

Wenn ein Mensch anders fühlt, spricht oder reagiert, dann darfst du dich fragen:
Was weiß ich noch nicht über diese Person?

Das ist der Anfang von echter Inklusion.


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8 Antworten zu „„Ich war nie zu viel – ich war nur nie gemeint“”.

  1. […] emotional, zu kompliziert“ – und am Ende erkennst: Du warst einfach nur du? Maria erzählt in diesem bewegenden Text von ihrer Erfahrung mit ADHS, von inneren Orkanen und dem Wunsch nach echter Tiefe statt […]

    Gefällt 1 Person

  2. […] ersten Beitrag zu meiner Blogparade hat sie einen sehr intensiven und berührenden Artikel über ADHS bei Frauen geschrieben. Es geht dabei nicht um Selbstdarstellung, sondern um Selbstbefragung. Und vielleicht […]

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  3. […] emotionale Regulation ist oft instabil. Nicht aus Mangel an Kontrolle, sondern durch neurologische […]

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  4. Ich danke dir für deine Blogparade.

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  5. Liebe Maria, danke für deinen straighten Artikel, der mich sehr berührt hat und in dem ich mich manchmal wiedergefunden habe, insbesondere im Abschnitt über den Smalltalk.

    Danke für deine Offenheit und deine Bereicherung meiner Blogparade.

    Liebe Grüße Claudia

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