„Du bist doch total ruhig, wie kannst du ADHS haben?“
„Du bist immer so aktiv, wie sollst du da erschöpft sein?“
„Wenn du unter Reizüberflutung leidest, warum suchst du dann ständig Input?“
Diese Fragen zeugen von einem typischen Missverständnis:
ADHS ist klar erkennbar, einheitlich und linear.
Doch das Gegenteil ist der Fall.
ADHS ist oft ein Zustand innerer Gegensätze.
Für viele Betroffene fühlt sich das Leben an wie ein permanentes hin und her zwischen
Energie und Erschöpfung,
Stille und Lärm,
Nähe und Rückzug,
Chaos und Ordnung.
Diese Gegensätze sind kein Widerspruch.
Sie sind Teil der neurobiologischen Realität.
Stille ist Lautstärke: wenn äußere Ruhe innerlich tobt
Neurotypische Menschen empfinden Stille oft als wohltuend.
Für viele ADHS – Betroffene ist sie jedoch überfordernd.
Überfordernd weil:
- der Reizfilter des Gehirns anders funktioniert
- in Momenten der Ruhe das „Innenleben“ umso lauter wird
- sich Gedanken verselbstständigen
- Emotionen hochkochen, wenn keine äußere Struktur sie „überschattet“
Stille lässt die Gedanken nicht verstummen.
Im Gegenteil: Sie gibt ihnen Raum, ungebremst zu kreisen.
Deshalb suchen viele Betroffene gezielt Reize, wie Musik, Podcasts, Geräusche, zur Regulation, nicht aus Ablenkung.
Nähe ist schön und überfordernd
Menschen mit ADHS sehnen sich oft nach tiefer Verbindung.
Gleichzeitig geraten sie bei intensiver Nähe schnell an ihre Grenzen, bzgl.:
- einer erhöhten emotionalen Sensitivität
- der Schwierigkeit, emotionale Reize von anderen und sich selbst zu trennen
- einem ständigen inneren Hochbetrieb, der durch soziale Interaktion verstärkt wird
Das Ergebnis:
Nähe wird gewünscht, aber oft auch als anstrengend empfunden.
Der Rückzug bedeutet also nicht Desinteresse, sondern Selbstschutz.
Chaos und Struktur: beides notwendig, beides schwierig
ADHS – Betroffene kämpfen oft mit innerem und äußerem Chaos und gleichzeitig mit einem intensiven Bedürfnis nach Ordnung.
Das paradoxe Verhalten:
- ein chaotischer Raum erzeugt Stress
- eine zu strikte Struktur löst Rebellion oder Überforderung aus
Die Lösung liegt oft in individuell angepassten Systemen:
- visuelle Ordnung statt „geschlossene Schränke“
- kleine Inseln der Kontrolle statt durchgetakteter Tagespläne
ADHS braucht Struktur.
Aber auf eigene Art.
Überforderung und Langeweile: zwei Seiten derselben Medaille
Menschen mit ADHS leben in einem ständigen Balanceakt:
- Unterstimulation führt zu innerer Unruhe, Leere, Reizsuche
- Überstimulation führt zu Shutdowns, Erschöpfung und Reizüberflutung
Beide Zustände können in kürzester Zeit wechseln.
Und das oft ohne erkennbare äußere Ursache.
Deshalb wirken Betroffene manchmal „sprunghaft“ oder „überdramatisch“.
Denn in Wirklichkeit sind sie ständig damit beschäftigt, sich zwischen zwei Extremen zu regulieren.
Stärken und Schwächen: beides gleichzeitig
ADHS ist kein reiner Mangel.
Aber auch keine Superkraft.
Es ist ein Zustand, in dem viele Fähigkeiten (z. B. Kreativität, Empathie, Intuition) nur unter bestimmten Bedingungen abrufbar sind und andere (z. B. Organisation, Geduld, Impulskontrolle) dauerhaft herausgefordert bleiben, was zu:
- plötzlichen Leistungsspitzen,
- unzuverlässiger Abrufbarkeit von Ressourcen,
- Selbstzweifeln, weil man „es kann, aber nicht immer“,
führen kann.
ADHS ist nicht paradox: es ist komplex
Was für Außenstehende widersprüchlich erscheint, ist für Menschen mit ADHS gelebte Realität.
Stille ist laut.
Ruhe ist unruhig.
Nähe ist schön und zu viel.
Die Kunst liegt nicht im „Lösen“ dieser Gegensätze, sondern im Umgang mit ihnen.
Und der beginnt mit Verständnis, nicht mit Bewertung.






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