Wenn ein Mensch keine Komplimente annehmen kann und dadurch den Kontakt zu sich selbst verliert, ist das kein oberflächliches Problem, sondern kann ein tief verwurzeltes Zusammenspiel aus neurobiologischen, psychischen und oft auch gesellschaftlich geprägten Faktoren darstellen.

Dieses kann bei Menschen mit ADHS, aufgrund des oft dysregulierten Dopamin – Systems, öfters zu einem noch komplexeren und intensiven Prozess führen, da ein positives Feedback nicht als „Bestätigung“ verarbeitet, sondern oft als unlogisch oder „nicht passend zur inneren Realität“ wahrgenommen wird.
Bei neurotypischen Menschen jedoch aktivieren Komplimente genau dieses Belohnungssystem.

Das Netzwerk für Selbstwahrnehmung

Dazu kommt, dass das Default Mode Network (DMN), das Netzwerk für Selbstwahrnehmung, aktiv ist, wenn wir über uns selbst nachdenken.
Bei ständiger Selbstkritik oder negativ geprägtem Selbstbild (z. B. durch Maskierung, soziale Ablehnung oder internalisierte Kritik) entsteht jedoch ein verzerrter innerer Spiegel.
Was dazu führen kann, dass Komplimente abprallen und so keinen Anschluss an das Selbstbild finden können.

Interpretation als potenzielle Gefahr

Und auch die Amygdala reagiert besonders empfindlich bei Menschen mit traumatischen Erfahrungen, Ablehnung oder chronischem Stress.
Wenn jetzt zusätzlich jemand ein Kompliment bekommt, kann die Amygdala das nicht als „sicher“ einstufen, sondern interpretiert es als potenzielle Gefahr („Was will die Person wirklich?“ / „Ich kann das nicht glauben“), was zu emotionaler, oft unbewusster, Überwältigung führt.

Multisensorisch betrachtet

Visuell

Stell dir vor, jemand schaut dich freundlich an und sagt etwas Wertschätzendes.
Wenn du jetzt jedoch den Kontakt zu dir selbst verloren hast, siehst du vielleicht den Blick.
Doch erreicht dich dieser nicht.
Es ist, als würdest du einen Film anschauen, in dem jemand etwas Nettes sagt:
du bist somit nicht die Hauptfigur in deinem eigenen Leben.

Auditiv

Komplimente klingeln oft hohl, fremd.
Manchmal sogar wie Hohn.
Das Gehirn „filtert“ den Tonfall und die Worte verzerrt.
Dadurch wird nicht gehört, was gesagt wurde, sondern es wird geglaubt, was gemeint sein könnte.

Propriozeptiv / Körperlich

Manche Menschen ziehen sich innerlich zusammen, bekommen Gänsehaut oder spüren sogar Anspannung oder Übelkeit.
Der Körper registriert das Kompliment, das Positive, empfindet es jedoch als „Gefahr“, was dazu führt, dass das Kompliment keine Sicherheit gibt, sondern Stress aktiviert wird.

Interozeptiv

Durch das empfindsame Alarmsystem, das viele Menschen mit ADHS haben, ist das Selbstbild negativ geprägt, so dass sich ein Kompliment, respektive ein Lob nicht wie Wärme, sondern wie Unstimmigkeit im Bauch, eine Art kognitiver Dissonanz, anfühlen kann.
Das Innenleben reagiert mit Zweifel, Scham und einem geringen Selbstwertgefühl:
„Das kann nicht über mich gemeint sein.“
Zudem schaffen Komplimente Verbindung.
Wer das jedoch nicht gewohnt ist oder sogar erlebt hat, dass Nähe gefährlich ist, wehrt diese aus Selbstschutz ab.

In bildlicher Sprache beschrieben

Stell dir nun ein großes, eindrucksvolles Gemälde mit folgendem Titel vor:
„Der Spiegel, der nichts zurückwirft“.
Aber kein glattes Poster, sondern eine lebendige, strukturierte Leinwand mit vielen Farben und Kontrasten:
das Innenleben eines Menschen, der keine Komplimente annehmen kann.
Im Zentrum des Gemäldes steht ein, zwischen den Kategorien schwebender, Mensch.
Manche Stücke sind blind, wie mit Nebel überzogen.
Von außen dringen Lichtstrahlen ins Bild.
Keine grellen Scheinwerfer, sondern weiche, warme Farben, zum Beispiel Rosé, Bernstein, Gold.
Diese Strahlen kommen von anderen Menschen.
Sie tragen Worte wie
„Du bist genug“,
„Ich sehe dich“,
„Das war schön von dir“.
Sobald diese jedoch den Menschen erreichen, prallen sie ab.
Nicht hart, schmerzhaft, sondern eher wie Wassertropfen an einer Wachsschicht.
Im Kopf des Menschen tobt ein hochkomplexer, jedoch nicht chaotischer Sturm mit blauen und roten Blitzen zwischen den Hirnarealen, in dessen Zentrum die Amygdala als glühender Knoten Alarm funkt und das Dopamin-System wie ein flackernder Lichtschalter reagiert: manchmal an, dann wieder aus.
Keine Stabilität.
Alles reagiert zu schnell oder gar nicht.
Die Körperhaltung des Menschen ist zusammengesackt.
Nicht schwach, sondern müde vom ständigen Ringen mit sich selbst.
Sein Körper ist nicht weich gemalt, sondern kantig, mit hochgezogenen Schultern, verkrampften an den Seiten befindlichen Händen und einem nicht zu engen, jedoch störendem um die Brust liegenden Band aus Draht, das das freie Atmen schwerfallen lässt.
Die Füße stehen auf einem, nicht ganz so sicheren, Untergrund aus spiegelglatter Fläche.
Rundherum um den Menschen ist alles voller Reize:
  • Geräusche hängen wie leuchtende, zu laute, nahe Schriftzüge in der Luft.
  • Farben flimmern am Rand des Bildes, nicht bedrohlich, aber fordernd.
  • Der Geruch des Raumes ist wie Metall und Lavendel: irritierend vertraut.
  • Der Tastsinn ist durch schwebende Fasern, die manchmal sanft streicheln, manchmal kratzen dargestellt.
Hinter dem Menschen steht, halb im Nebel, halb greifbar, ein zweites Wesen, das genauso aussieht, aber älter, kantiger, mit verschränkten Armen und Worten flüsternd, die wie dunkle Schlieren durchs Bild ziehen:
„Das ist nicht für dich“,
„Sie meinen jemand anderen“,
„Du bist eine Täuschung“.
Jedes dieser Worte legt sich wie eine Schicht Grauschleier auf die Lichtstrahlen der Komplimente.
Ganz tief in der Brust des Menschen, wo das Drahtband liegt, glüht ein kleines, warmes, schwaches, echtes, nicht flackerndes, aber langsam pulsierendes Licht.
Dies ist der Teil in dem Menschen, der noch an eine Verbindung glaubt.
Der Teil, der sich irgendwann wieder fühlen wird.
Der Kern, der bereit wäre, zu wachsen, wenn man ihn sieht, nährt und schützt.
Das Bild schreit nicht, es spricht:
„Ich will gesehen werden.
Aber ich habe gelernt, dass Sehen gefährlich ist.“
Doch es sagt auch:
„Ich trage das Licht bereits in mir.
Ich muss nicht werden.
Ich darf entdecken.“

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Eine Antwort zu „ADHS und keine Komplimente annehmen können”.

  1. […] ist es Zeit, außergewöhnlich umzudeuten.Nicht als Kompliment, das gleichzeitig ein „Bitte sei nicht so“ bedeutet.Sondern als Einladung, alle Facetten zu […]

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