Unbekümmert
Was für ein Wort?!
Es klingt nach Leichtigkeit, Lachen, loslassen.
Nach spontanen Entscheidungen, frischer Luft, Freiheit im Kopf.
Genau das war auch der Impuls zur 56. Blognacht mit Anna, der mich mitten im neurodivergenten Alltag dazu eingeladen hat, innezuhalten und mich zu fragen:
Was bedeutet es eigentlich, unbekümmert zu sein, wenn man mit ADHS lebt?
Für viele ist es ein Lebensgefühl.
Für viele Frauen mit ADHS ist es jedoch ein Zustand, den sie höchstens aus der Kindheit kennen.
Oder aus einer Zeit, in der sie noch nicht wussten, warum sie sich anders fühlten.
Was bedeutet es, „unbekümmert“ zu sein, wenn der Alltag aus Reizüberflutung, innerer Anspannung, mentalem Multitasking und emotionaler Übersteuerung besteht?
Und was passiert, wenn die Welt von Müttern und Partnerinnen verlangt, unbekümmert zu lächeln, während im Inneren ein Dauerfeuerwerk an Gedanken, Gefühlen und Erwartungen tobt?
Unbekümmertheit: ein Zustand mit Bedingungen
Die Fähigkeit, sorglos und leicht zu leben, ist kein Charakterzug.
Sie ist ein Ergebnis von Sicherheit, Vertrauen, Selbstregulation und äußerer Stabilität.
Frauen mit ADHS haben in vielen dieser Bereiche Nachteile:
- ihre Reizfilter funktionieren nicht wie bei neurotypischen Menschen
- ihre emotionale Regulation ist oft instabil. Nicht aus Mangel an Kontrolle, sondern durch neurologische Überlastung.
- ihre Biografie ist häufig geprägt von unangemessenen Urteilen, Schuldgefühlen und einem tiefen inneren Druck, endlich „normal“ zu funktionieren.
Das alles schafft Bedingungen, die mit „Unbekümmertheit“ schwer vereinbar sind.
In der Partnerschaft: Unbekümmert oder unverstanden?
In Beziehungen erwarten viele Partner*innen Leichtigkeit, Humor, Gelassenheit.
Doch ADHS bringt oft das Gegenteil mit sich:
- Gedankenkarusselle bei kleinen Streitpunkten
- ein ständiges Gefühl von „zu viel“ und gleichzeitig „nicht genug“
- Rückzug statt Verbindlichkeit in überfordernden Momenten
- impulsive Aussagen, die später bereut werden
Die Frau mit ADHS in der Rolle der Partnerin kämpft oft mit einem doppelten Missverständnis:
- Sie wirkt kontrollierend, weil sie innerlich versucht, sich nicht zu verlieren.
- Sie wirkt launisch, obwohl sie nur überreizt ist.
- Sie wirkt unberechenbar, obwohl sie sich, mehr als alles andere, nach emotionaler Sicherheit sehnt.
Unbekümmertheit? In einer Beziehung, die nicht auf Verständnis und Kommunikation basiert, wird sie zur Maskerade.
Als Mutter: Der Spagat zwischen Kontrolle und Chaos
In der Rolle als Mutter prallen die Anforderungen der Außenwelt und die Wirklichkeit der ADHS-Gehirnstruktur frontal aufeinander.
Unbekümmert ein Picknick planen?
Nicht, wenn der Rucksack chaotisch ist, du den Brotdosenverschluss nicht findest und dein Kind ausgerechnet heute sensorisch alles ablehnt.
Unbeschwert in den Tag leben?
Nicht, wenn du schon beim Aufstehen drei Listen im Kopf hast, zwei Termine vergessen und dich selbst mal wieder ans Ende stellst.
Kinder lieben spontane Mütter.
Aber ADHS-Mütter brauchen oft Struktur, um überhaupt im Moment sein zu können.
Spontanität wird schnell zum Stressauslöser.
Leichtigkeit zur Unsicherheit.
Und Unbekümmertheit zum Wunschtraum.
Was unbekümmert trotzdem bedeuten kann – auf meine Art
Doch unbekümmert leben heißt nicht zwangsläufig, alles loszulassen.
Für neurodivergente Frauen bedeutet es oft:
- in einem Moment aufzuatmen, ohne direkt an den nächsten zu denken
- den Wäscheberg zu ignorieren, ohne sich zu schämen
- den eigenen Gedanken Raum zu geben, ohne sie zu bewerten
- sich kindlich zu freuen, ohne sich dabei albern zu fühlen
- Momente mit dem Partner zu genießen, ohne innerlich To-dos abzuhaken
- nicht zu funktionieren, ohne sich schuldig zu fühlen
Unbekümmert leben kann heißen, mit sich selbst nachsichtiger zu sein.
Nicht alles zu kontrollieren.
Sich selbst nicht zu überwachen.
Kurz:
ADHS nicht zu leugnen!
Aber ihm nicht alles zu überlassen.
Mein unbekümmertes Leben sieht anders aus
Vielleicht bin ich nicht die Frau, die spontan aufbricht.
Nicht die Mutter, die fünf Dinge gleichzeitig balanciert: lächelnd, mit Blumenkleid und Picknickkorb.
Nicht die Partnerin, die immer entspannt und charmant reagiert.
Aber ich bin die Frau, die jeden Tag neu beginnt.
Die kämpft und lacht.
Die müde ist und trotzdem liebt.
Die vielleicht nicht unbekümmert ist, aber mitfühlend.
Mit sich.
Mit anderen.
Und irgendwann: auch mit ihrem eigenen Chaos.






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